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Wendla
„Ich wollte
auch immer
leben…“

Wendla

An wen erinnern wir uns heute?

An meine Mutter und an ganz alte Freunde, die ich verloren habe, als ich ein junges Mädchen war.

Was ist passiert?

Meine Mutter ist vor 5 Jahren im Alter von 77 gestorben. Sie hatte seit sie 18 war Multiple Sklerose und deswegen war meine Kindheit bzw. mein ganzes Leben geprägt von der Auseinandersetzung mit ihrem möglichen Tod, mit dem Schmerz der Krankheit, mit der Trauer und vor allem der Angst vor dem Tod. Der Tod war immer irgendwie Teil von meinem Leben.

Was hat es mit dir gemacht?

In meiner Kindheit hat sich vieles zu Hause abgespielt. Meine Mutter hat sich sozial mehr und mehr zurückgezogen. Sie hat sich viel geschämt. Trotzdem hatte ich eine normale Kindheit. Ich hatte Freunde, meine Mutter hat mir bei der Schule geholfen, wir haben schöne Sachen gemacht. Und dennoch habe ich das Gefühl, dass ich heute immer noch manchmal Leute oder Familien beobachte und dann denke ich, „Ach, so kann das auch sein“.

Was unseren Alltag geprägt hat ist, mit MS kommt immer eine geschwächte Blase und wir waren halt oft in der Stadt und diese Suche nach öffentlichen Toiletten hat meine ganze Kindheit bestimmt. Und auch die Scham meiner Mutter um das Thema natürlich. Das war immer da.

Ich glaube, ich habe irgendwie gespürt, dass das nicht normal ist mit einer kranken Mutter aufzuwachsen. Aber als Kind nimmt man die Dinge so. Erst als ich älter wurde und Eltern von Freunden kennen gelernt habe, habe ich gemerkt, dass das auch anders sein kann.

Ich habe mich schon in der Schulzeit in künstlerischen Projekten mit der Krankheit auseinandergesetzt. Als ich 14 war, gab es in meiner Schule eine Ausschreibung „Wie stellen wir uns das Jahr 2000 vor“ und da habe ich eigentlich meine erste Reportage gemacht. Ich habe eine Umfrage zu öffentlichen Toiletten gemacht und dann mussten die Leute ihre Meinung auf eine Klopapierrolle schreiben und in die Kamera halten. Das war mein erstes Fotoprojekt.

Der Tod meiner Mutter war wirklich die Angst meines Lebens, es war wirklich das Schlimmste, was ich mir vorstellen konnte. Ich habe immer gedacht, wenn meine Mutter stirbt, dann muss ich ganz viele Freunde haben. Das war so meine Devise.

Was hat dir geholfen?

Geholfen haben mir meine Freunde, immer wieder meine Freunde. Als meine Mutter gerade gestorben war, da haben mich meine Freunde einfach ins Auto gepackt, Essen gekauft und mich nach Hamburg gefahren. Auch auf der Beerdigung waren ganz viel Freunde von mir, ich habe wirklich ganz viele wirklich nahe Menschen.

Ich ab tatsächlich auch viele Freunde, die schon jemanden verloren haben. Das hat mir geholfen. Da konnte ich immer fragen, wie lange dauert das noch. Die hatten ein starkes Bewusstsein dafür, was es heißt, zu trauern und dass das nicht nach drei Wochen weg ist. Die haben da einen wahnsinnigen Anteil drangenommen. Die waren wie ein Netz, das vorbereitet war und in das ich dann reingefallen bin.

Was hat dir nicht geholfen?

Im Krankenhaus, kurz vor ihrem Tod, da hat sie mich beim Rausgehen so ganz, ganz liebevoll angeschaut, das war so ein besonderer Moment und dann kam so eine bescheuerte Krankenschwester und meinte, „Na, ihre Mutter hat jetzt ja auch nicht mehr lange“. Das war echt ganz schlimm.

Was machst du jetzt mit deinem Leben?

Verbunden mit dem Tod meiner Eltern ist immer so eine Angst vor Einsamkeit. Ich habe keinen Partner und keine Familie. Mein Vater ist jetzt um die 80. Allein sein und allein bleiben ist ein großes Thema. Ich gehe das Thema Einsamkeit jetzt auch therapeutisch an. Ich versuche Narrative umzuschreiben. Was heißt Einsamkeit, was ist so schlimm an Einsamkeit? Ich versuche herauszufinden, wie sich das Thema Tod auf mein Leben ausgewirkt hat. Außerdem suche ich immer noch einen Mann und drehe Filme 🙂

Kann man sich auf den Tod vorbereiten?

Der Tod ist, auch wenn man weiß, dass es darauf hinausläuft, zu groß für die Seele und die Psyche. Ich denke, man kann sich nicht vorbereiten. Das ist vergleichbar mit einer Geburt, wenn Leben kommt oder geht. Du kannst dich irgendwie vorbereiten, aber du weißt nicht, was für eine Geburt das wird und was das mit dir machen wird. Die Psyche und die Seele können das nicht fassen. Klar wusste ich, dass sie sterben wird, vor allem mit der Krankheit und so, aber es ist bis heute immer noch abstrakt für mich.

Janna
„Als meine
Augen alles
gesehen hatten,
kehrten sie
zurück zur
weißen
Chrysantheme.“

Janna

An wen erinnern wir uns heute?

Wir erinnern uns zum Einen an meinen Bruder, der sich das Leben genommen hat als ich siebzehn Jahre alt war und wir erinnern uns an meinen ehemaligen Lebenspartner, der sich das Leben genommen hat ein halbes Jahr nachdem wir uns getrennt hatten. Das war zwanzig Jahre nach dem Suizid meines Bruders, letztes Jahr im Januar während der Pandemie.

Was ist passiert?

Letztes Jahr Ende Januar bekam ich einen Anruf bei der Arbeit von einer Freundin, die mir die Nachricht überbrachte, dass Roman einen Unfall hatte und in der Intensivstation im Sterben lag. Das war für mich eine Art Retraumatisierung, weil mit siebzehn Jahren meine Eltern mich abholten in einer Werbeagentur in der ich zu der Zeit gearbeitet hatte und klingelten und mich auch vor diese Nachricht des Todes meines Bruders stellten.

Natürlich kann man abschließend nicht sagen, ob es bei Roman ein Suizid war, weil er auf die Straße getreten ist und von einem Auto erfasst wurde. Was in diesem Augenblick in ihm stattfand, kann niemand sagen, ob er in diesem Moment vielleicht einen Sog gespürt hat auf die Straße zu treten oder ob er vielleicht aufgrund der Medikamente zu diesem Zeitpunkt irgendwie abwesend war, was genau in einem Menschen dann vorgeht, kann man natürlich nicht sagen.

Was hat es mit dir gemacht?

Damals als ich siebzehn Jahre alt war, war das komplett eine Zäsur, es gibt für mich ein Leben vor dem Tod meines Bruders und ein Leben danach. Und jetzt mit meinem ehemaligen Lebenspartner ist es natürlich genauso unglaublich, weil das ein Mensch ist mit dem man kaum näher sein kann. Und meinem Bruder war ich auch sehr, sehr nah. Die Verbindung zu beiden war unglaublich groß. Trotzdem war ich jetzt nicht mehr so hilflos. Ich hatte gelernt mit so etwas umzugehen. Als ich siebzehn war, war ich vollkommen überfordert. Ich hatte das Gefühl, eine Bombe schlägt in unsere Familie ein, jeder ist für sich beschäftigt mit dem Schmerz, auch meine Eltern. Ich habe mich sehr alleine gefühlt. Niemand konnte das verstehen, meine Freunde haben das nicht erlebt, wussten nicht, was für ein unendlich tiefer Schmerz das auslösen kann.

Was hat dir geholfen?

Ich habe auch schon damals, vor zwanzig Jahren, versucht Wege zu finden, mich dem Leben zuzuwenden und nicht den Weg meines Bruders zu gehen. Ich habe mich ganz bewusst für das Leben entschieden. Ich bin dann als ich achtzehn wurde und mit der Schule fertig erstmal ans andere Ende der Welt gereist. Da habe ich erst den Raum gehabt zu entdecken und zu fühlen, was da eigentlich passiert ist, mit dem Abstand zu diesem Trauerhaus, meinem Elternhaus.

Jetzt mit Roman, als er gestorben war habe ich mich mit einer guten Freundin im Wohnzimmer auf den Boden gelegt und Mozarts Jupiter Symphonie gehört. Musik war in diesem ganzen Prozess der Loslösung und der Trauer ein ganz wichtiger Punkt.

Ich habe mir im vergangenen Jahr hinweg viele verschiedene Veranstaltungen, Rituale und Möglichkeiten gesucht um meinen eigenen Weg des Trauerns zu finden und habe dabei entdeckt, wie kreativ das eigentlich sein kann und wie nah am Leben das sein kann. Ich habe beispielsweise ein Haiku hunderte Mal auf eine Leinwand geschrieben, dieses Rezitative hatte etwas von einem Mantra oder einen Rosenkranz beten.

Sowieso haben mir Rituale geholfen, vor allem, wenn sie in Gemeinschaft waren, wenn sie in Verbindung stattfinden. Ich glaube eigentlich, dass Trauer beides braucht, einen Moment der Zurückgezogenheit und des Schutzraumes, aber eigentlich ist das nichts, was man alleine macht.

Was hat dir nicht geholfen?

Damals als mein Bruder gestorben war, in diesem kleinen Ort waren Menschen überfordert mit der Situation und ich war teilweise damit konfrontiert, dass sowas dann nach ein paar Wochen auch mal wieder gut sein kann. Da war kein Verständnis für das Ausmaß und dass dieses Erlebnis mich maßgeblich für viele, viele Jahre begleiten sollte.

Was machst du jetzt mit deinem leben?

Celebration of life and death ist für mich zu einem Leitsatz geworden, das gehört zusammen und genauso gehören auch Freude und Trauer zusammen. Wir haben ein Gemüt und man kann nicht das Eine von dem Anderen trennen. Es braucht die Trauer um sich auch wieder ganz freuen zu können.

Benjamin
„Trauer ist
für mich ein Ventil,
es muss raus…“

Benjamin

Was ist passiert?

Mein Sohn Joshua würde in diesem Jahr 17 werden. Er ist im Alter von 2 Jahren gestorben. Er kam mit einer Gastroschisis auf die Welt. Die Ärzte haben gesagt, dass sie ihm im Grunde keine vier Wochen geben. Wir hatten ihn dann zwei Jahre. Das war nicht nur ein Geschenk, sondern ein Wunder.

Was hat es mit dir gemacht?

Ein Jahr später, zu seinem Todestag, da kam alles so richtig geballt hoch. Wenn ich jetzt überlege, wozu ich in dem Jahr nach seinem Tod alles in der Lage war, das ist unvorstellbar, was hat mich da geritten. A) hat man sich auf alles gestürzt, was einen ablenkt, aber B) war das alles wie so ein Dunstschleier, dieser Schock, da hat der Körper einen geschützt. Und das kam alles nach einem Jahr hoch, da war dieser Schleier weg und auf einmal merkt man, was da alles passiert ist. Ich merke jetzt, 15 Jahre später, wenn ich darüber rede, kommt das alles wieder hoch. Aber das Schöne ist, wenn jetzt hier die Tränen kommen, weiß ich, die gehen auch wieder.

Was hat dir geholfen?

Die schönste Erkenntnis ist gewesen, dass Trauer sein darf und nicht schlimm ist und sie auch wieder geht. Das sind so Momente, wo der Körper das einfach wieder verarbeiten möchte und dass man das zulassen kann, weil man aus der Erfahrung weiß, es gibt die Sonnenstunden und es gibt die Regentage. Dann kann man die Trauer auch bewusst zulassen und muss sich nicht dagegen wehren.

Was hat dir nicht geholfen?

Leute waren oft überfordert, ich hatte das Gefühl, die Leute trösten zu müssen. Oder ich hab mich oft beleidigt gefühlt, wenn Leute so oberflächlich waren, wenn sie so nach einem halben Jahr gefragt haben, „Geht’s euch jetzt besser?“, da hab ich mich echt beleidigt gefühlt.

Was machst du jetzt mit deinem leben?

Joshuas Tod hat mich sehr verändert. Sein Tod war ein Turn-around. Ich hatte nie die Frage nach dem Warum, „warum hat Gott uns das zugemutet“ in mir, sondern eher sowas wie „Warum nicht? Warum nicht auch wir?“. Ich hab kein Problem mit Tiefe, die Tiefe suchen oder auch in der Tiefe suchen. Ich liebe Leichtigkeit, ich liebe Humor, ich kann mit Leuten Witze machen und in der nächsten Minute sprechen wir über ganz tiefe, ernste Themen und anschließend sind wir wieder oben. Ich hab kein Problem damit. Rückblickend kann ich wirklich sagen, so grausam die einzelnen Momente waren, wurde ich da wirklich durchgetragen und nichts davon hat mich zerstören können, sondern alles hat mich irgendwie auch reifen und entwickeln lassen.

Wie würdest Du Trauer beschreiben?

Trauer ist für mich einfach ein Ventil des Körpers damit umzugehen. Seitdem ich das weiß, empfinde ich das sogar als angenehm, weil es befreit.

Alex
„Ich lebe.“

Alex

Was ist passiert?

Mein Ehemann Storch (eigentlich hieß er Carsten Schmelzer, aber alle nannten ihn nur Storch) ist Ende Juni 2015 gestorben, nachdem er zuvor knapp drei Wochen wegen einer Gehirnblutung im Krankenhaus gelegen hatte. Im Mai 2015 hatte der Hausarzt lebensgefährlich hohen Blutdruck diagnostiziert. Aber noch bevor er mit einer Behandlung beginnen konnte, brach Storch Anfang Juni wegen einer Sickerblutung im Hirnstamm zusammen. Er kam auf eine neurochirurgische Intensivstation, lag im künstlichen Koma und wurde beatmet. Nach einigen Tagen wurde die Narkose zurückgenommen und die Ärzte haben untersucht, ob Storch wieder zu sich kommt und was von seinem Gehirn noch funktioniert. Da gab es viele unerwartete Zeichen der Besserung. Die Blutung hatte sich zu einem großen Teil von alleine abgebaut, in mehreren Regionen des Gehirns konnte normale Aktivität gemessen werden. Storch war zwar nicht wieder bei Bewusstsein, er bewegte sich aber und reagierte auf Berührungen und Ansprache. Nach zweieinhalb Wochen wurde er in eine Rehaklinik verlegt, um dort von der Beatmung entwöhnt zu werden. Leider gab es am zweiten Tag schon so heftige Komplikationen, dass Storch einen Lungenriss und in Folge dessen einen Herzinfarkt erlitt. Dieser war so heftig, dass die Ärzte ihn nicht retten konnten. Besonders tragisch war, dass Storch bis zum letzten Tag immer mehr aufwachte und reagierte. Aber künstliche Beatmung und die Entwöhnung davon sind für den Körper sehr anstrengend und gefährlich.

Was hat es mit dir gemacht?

Es hat sich angefühlt wie eine Amputation – ein wichtiger Teil meiner selbst wurde mir mit Gewalt entfernt und ich musste lernen, ohne diesen Teil weiter zu leben. Storch und ich waren 17 Jahre verheiratet, kannten uns seit fast 30 Jahren und hatten schon im Spaß überlegt, wie wir unsere Silberhochzeit 2023 feiern wollen. Wir waren mit Anfang 20 ein Paar geworden, wir haben uns gegenseitig geprägt und geformt. Vor allem haben wir uns sehr geliebt und unsere Beziehung war für uns beide das Wichtigste im Leben. Ich hatte früher manchmal versucht, mir vorzustellen, wie es sein würde, wenn er vor mir gehen muss. Aber ich hätte mir nicht ausmalen können, wie überwältigend die Trauer sein würde. Von Anfang an war ich nicht nur traurig, sondern vor allem auch wütend, ängstlich und immer wieder innerlich leer und abgestorben. Als würde mein Gehirn manchmal abschalten, weil es das alles nicht mehr ertragen konnte. Das machte sich auch psychosomatisch bemerkbar in Problemen beim Schlafen und Essen, Rückenschmerzen und gestörtem Immunsystem.

Was hat dir geholfen?

Ganz am Anfang gab mir jemand einen Rat, der mich bis heute begleitet: „Trauer dauert so lange, wie sie dauert. Trauer passiert, wie sie passiert.“ Das hat mir viel Druck rausgenommen, wenn ich das Gefühl hatte, ich müsste funktionieren oder schneller heil werden oder Erwartungen anderer erfüllen. Meine Gemeinde hat mich aufgefangen und getragen. Bis heute bin ich zutiefst bewegt davon, wie sich die Leute um mich gekümmert haben. Sie haben mich zum Essen eingeladen, für mich gebetet und geputzt, immer wieder angerufen und nach mir gefragt. Sehr oft bin ich einfach mit einer Familie mitgegangen, wenn sie einkaufen mussten oder einen Ausflug gemacht haben. Ich wurde liebevoll „mitgeschleift“, das tat mir gut. Ich war erstaunt, dass ich Überlebenswillen in mir gefunden habe, damit hatte ich nicht gerechnet. Mir wurde sehr bald klar, dass ich mich öffnen und reden muss, sonst würde ich kaputtgehen. Es war nicht leicht, aber ich habe in der Trauer viel gelernt, was ich brauche und was mir hilft.

Was hat dir nicht geholfen?

Reparaturversuche und Ratschläge. (Ratschläge sind eigentlich auch nur Schläge!) Sehr viele Menschen wollten mir unbedingt etwas Gutes sagen und mich trösten. Das ging leider oft daneben und hat mich eher verwirrt und unter Druck gesetzt. Trost wird leicht falsch verstanden. Es ist besser, dem trauernden Menschen in seinem Schmerz beizustehen und ihn zu respektieren, als Traurigkeit „wegmachen“ zu wollen. Traurigkeit ist der Situation angemessen und wichtig für die Verarbeitung. Religiöse Floskeln und Erklärungen haben mir auch eher geschadet als geholfen. Ich glaube, dass mein Mann bei Gott ist und dass es ihm dort gut geht. Wir werden uns wiedersehen. Das finde ich schön, aber es ist kein Trost für meine Trauer. Im Himmel wird alles anders sein, aber ich brauche ihn jetzt hier bei mir.

Was machst du jetzt mit deinem leben?

Ich lebe. Manchmal lese ich so Berichte von Menschen, die einen großen Umbruch oder eine Krise erlebt haben und dann noch mal ganz vor vorne angefangen haben, neuer Wohnort, neuer Partner, neue Arbeit. Das hab ich alles nicht gemacht, oder noch nicht. Tatsächlich habe ich die ersten sechs Jahre fast durchgehend getrauert und erst seit ein paar Monaten gibt es längere Pausen zwischen den einzelnen Trauerwellen. Wahrscheinlich wird mich das mein Leben lang begleiten, aber ich werde lernen, damit umzugehen. Das Leben, das Storch und ich gemeinsam geführt haben, war spannend und abwechslungsreich, es war mir aber auch oft zu schnell und zu anstrengend. Ich hatte mir schon lange gewünscht, ruhiger zu leben. Jetzt kann ich gar nicht mehr anders. Ich wohne in unserer Wohnung, ich habe eine gute Arbeit, wundervolle Freunde und eine sichere Gemeinde. Dafür bin ich dankbar.

Wie würdest Du Trauer beschreiben?

Wie ein Spülbecken, bei dem der Abfluss verstopft ist. Das Wasser ist dreckig, voll ekliger Brocken und es fließt nur langsam ab. Zwischendurch stockt es immer wieder und bleibt stehen, dann gibt es wieder einen großen Blubb und ganz viel fließt auf einmal ab. Man versucht, die schlimmsten Stücke rauszufischen und wegzuwerfen, aber eigentlich will man sie gar nicht anfassen und es geht auch nicht schneller dadurch. Diese Drecksbrühe besteht aus Angst, Wut, körperlichem Schmerz, Traurigkeit, Einsamkeit, Hoffnungslosigkeit und vielen anderen Gefühlen, die einen überwältigen. Man muss oft abwarten, bis sie sich von alleine auflösen oder kann sie nur ganz vorsichtig auflösen.

Norman
„Ich bin kein
Einsiedler.“

Norman

Was ist passiert?

Meine Frau Anja ist gestorben, ja – meine Frau ist gestorben.
Im Jahr 2013 hat man bei Anja Leukämie diagnostiziert. Das kam natürlich als Schock und Überraschung. Das hatten wir wirklich gar nicht erwartet. Sie war jung und gesund und dann rechnet man vielleicht mit Diesem und Jenem, aber nicht mit so einer schwerwiegenden Krankheit. Sie hat dann ein Jahr im Krankenhaus verbracht und dann war sie sozusagen erstmal wieder genesen, nicht geheilt in dem Sinne. Es gab dann ein Rezidiv, das war dann im Frühjahr 2016. Dort hat sie dann zusätzlich zu diesen merkwürdigen T-Zellen noch einen Tumor entwickelt, der eben sehr schnell gewachsen ist. Das, was die Ärzte anfänglich geplant hatten, war dann nicht mehr umzusetzen, das ging dann zu schnell und sie ist dann eben an der Krankheit und den damit verbundenen Nebenwirkungen gestorben. Und das relativ schnell. Die Diagnose hatten wir Februar/ März und Mitte Mai war sie dann tot.

Was hat es mit dir gemacht?

Das ist eine gute Frage. Das konnte nicht mal die Psychologin, die ich einige Monate später aufgesucht hatte, ganz klären.
Im ersten Moment ist man wahrscheinlich nur betäubt. Man macht ja seinen Scheiß weiter.
Irgendwann merkte ich, dass meine Knie anfangen zu zittern, da wusste ich, dass ich mir Hilfe holen muss.
Eine große Veränderung war sicherlich meine allgemeine Verunsicherung und meine Schüchternheit. Verunsicherung im Allgemeinen auch gegenüber Menschen. Das hab ich an mehreren Stellen deutlich gespürt. Auch bei der Arbeit, ich hab mich schnell von Menschen verunsichern lassen. Passiert mir immer noch. Komisch. Und es gibt in meinem Job wahrscheinlich nichts, das ich nicht beantworten oder unterrichten kann. Trotzdem. Daran arbeite ich noch immer. Das ist sicher auch Teil meiner Persönlichkeit, aber das wurde vertieft und verschärft, vergrößert durch Anjas Tod.

Was hat dir geholfen?

Grundsätzlich haben mich viele Leute unterstützt. Das war wirklich reichlich. Die Kinder konnten hier hin und da hin, also die waren betreut. Ferienbetreuuung durch die Schwiegereltern. Und auch andere Dinge. Wobei ich froh war, dass ich das meiste doch irgendwie selber machen konnte. Vielleicht ist die Frage „Geholfen -wobei und wie?“ besser. Alltagleben, das konnte ich.
Was ich gemacht habe damit ich nicht dauernd in die Tränengesichter der anderen Leute gucken musste, war, dass ich bei der Trauerfeier zu den Versammelten dort nochmal eine eigene kleine Miniansprache gehalten habe, in der ich versucht habe die positiven Dinge herauszustellen. Das war zum Großteil natürlich Selbstschutz, weil ich in dieser Kirchengemeinde ja auch tätig bin und keine Lust hatte jedes Mal in verweinte Augen zu gucken. Aber nicht in meine eignen, sondern in die von den anderen.
Ich hab aber auch Leute gehabt, die waren durchgängig für mich da. All die Jahre. Und Musik, ich hab alles, was ich in den letzten Jahren erlebt habe in meine Songs rein getan. Da arbeite ich vieles ab. Und ich lese mich selber zwischen den Zeilen.

Was hat dir nicht geholfen?

Ja, wie gesagt, die verheulten Gesichter der anderen. Es gab aber auch komplette Ignoranz. Oder sowas wie „Ach was! Drei Jahre ist das schon her?! Dann ist das ja fast vergessen!“ oder „Einem Freund von mir ist das auch passiert, das zweite Jahr, das war das Allerschlimmste!“, wo ich dann denke, „Schön, dass du mir das erzählst, das kann ich auch selber herausfinden.“

Was machst du jetzt mit deinem Leben?

Ich war zwanzig Jahre in Beziehung und dann bist du plötzlich wieder allein. Das macht was mit Menschen. Man erlebt plötzlich Dinge, die man schon ganz vergessen hat, wie z.B. es sich anfühlt Single zu sein.

Meine Frau, ja, sie war die Frau meines Lebens, das muss ich einfach so sagen und der Gedanke ist fast schon absurd, dass du jemanden hast mit dem du so blind einig bist. So glasklar einig. Es stand nichts zwischen uns.
Es kostet mich sehr viel Kraft, mir eine neue Perspektive aufzubauen. Jeder hat eine andere Vorstellung vom Leben. Für mich war das eine gute Partnerschaft. Ich bin kein Einsiedler. Für mich war immer Partnerschaft das Ziel meines Lebens. Im Austausch zu sein. Was ist meine Perspektive jetzt? Ich hatte mir auch gedacht, „du könntest jetzt doch mal eine Freundin haben“, aber irgendwie kann ich das nicht. Ich bin zu ernst oder ich habs verlernt und Datingseiten finde ich einfach extrem merkwürdig.
Für mich ist es ein bisschen deprimierend. In ein paar Jahren sind die raus. Und dann?
Ich hätte schon Lust auf Beziehung, ich bin offen, aber vielleicht habe ich das Flirten verlernt. Ich weiß nicht. Ich bin auch anders geworden.

„Ich nehme das Leben
an sich, nicht als
selbstverständlich…“

Marzia

Was ist passiert?

Wir haben mit meinen Eltern einen Bauernhof-Urlaub gemacht. Direkt am Meer in Schleswig-Holstein. Wir waren gerade den zweiten Tag da und hatten einen ganz tollen Tag in St.Peter-Ording am Strand. Es war windig, es war Sonnig, es war Mai. Auf dem Rückweg mussten wir über so einen Feldweg. Links und rechts nur Felder. Wir sind ganz langsam gefahren und man hörte wie das Gras am Unterboden des Autos kratzte. Ich hab noch zu meiner Tochter Elena gesagt, „Guck mal, da sind Schafe“, und Elena hat immer versucht zu gucken und hat nichts gesehen aus ihrem Kindersitz und dann hab ich zu meiner Mutter gesagt, „Wir können ja gleich nochmal wiederkommen, der Bauernhof ist ja schon da vorne, das ist ja nicht weit“. Und in dem Moment wanderte mein Blick von den Schafen so langsam zum Beifahrersitz hin und an dem Beifahrersitz vorbei sah ich einen Zug. Der war so nah. Dann hab ich nur noch gesagt – „Der Zug!“. Und dann war schwarz. Ich bin erst wieder zu mir gekommen, da hing ich kopfüber im Auto. Es war wie im Film. Ich hab funktioniert, hab versucht mich abzuschnallen. Um mich herum waren Stimmen. Mein Vater hing kopfüber, ihm tropfte was vom Kopf und er hat unmenschliche Laute von sich gegeben. Es war wie im Horrorfilm. Irgendwann hat irgendwer mich ins Gras gelegt, ich hörte Elena, die hat geweint und meine erste Frage war, „Wo ist mein Sohn?“. Die haben mich immer nur vertröstet und haben gesagt, „Wir kümmern uns, wir kümmern uns!“. Dann wurde ich in den Krankenwagen geschoben und hab immer wieder nach Matteo gefragt und die haben einfach nichts gesagt. Auf dem Weg ins Krankenhaus hab ich dann wieder gefragt, „Kann mir bitte jetzt mal irgendjemand sagen, was mit meinem Sohn ist?! Lange Haare, lila Jacke!“. Und dann hat der Typ neben mir während er irgendwas Medizinisches mit mir machte so ganz nebenbei gesagt, „Ach, das war ein Junge? Ich dachte, das war ein Mädchen. Nee, der war schon tot als wir dahin kamen“. So hat der das gesagt und ich hab solche Panik gekriegt und hab angefangen zu schreien, woraufhin Elena richtig Panik kriegte, weil Mama schreit. Dann hab ich mich beruhigt, ich hab bis 10 gezählt und hab immer wieder gesagt, „Das kann nicht wahr sein, das ist nicht möglich, das ist nicht wahr, das kann nicht sein, das überleb ich nicht, das geht nicht!“. Im Krankenhaus hab ich ganz mechanisch alle Fragen beantwortet, „Tetanus, ja, Allergien, nein, …“ und in meinem Kopf explodierte es, „Er ist tot, er ist tot, er ist tot. Das Leben funktioniert nicht mehr. Er ist tot. Das wofür ich gelebt hab, ist tot. Mein Sohn, mein Wunschkind, das ich immer wollte, er ist tot. Er wird nie wiederkommen“.

Was hat es mit dir gemacht?

Es hat alles auf einen Schlag verändert. Ich habe jetzt ein komplett anderes Leben als ich vorher geführt habe. Mein Blick auf Dinge ist komplett anders. Sein Tod hat ein Stück meines Herzens, meines großen, großmütigen Herzens kaputt gemacht. Mir das Herz rausgerissen. Er war mein Erstgeborener. Ich konnte mir ein Leben ohne ihn einfach nicht vorstellen. Ich war nicht dabei als er seine letzten Atemzüge tat. Das ist so ein beschissenes Gefühl als Mutter dein Kind allein zu lassen.

Oft merken Menschen erst, was sie haben, wenn sie es verlieren. Leid öffnet einem die Augen. Matteo hat mich zum anderen Menschen gemacht. Der Unfall hat mich wieder zu einem anderen Menschen gemacht.

Was hat dir geholfen?

Ich habe immer mal wieder solche kleinen Begegnungen. Das ist schön und heilsam. Es ist dann so als würde sich eine Tür zum Himmel öffnen und durch diese Tür lächelt mir Matteo entgegen. Immer wieder. An seinem Grab sind drei kleine Marienkäfer aus Holz, die ihm seine Cousinen da reingesteckt haben, die sich drehen können. Die waren zum Beispiel so lange still, bis ich anfing zu weinen. Auf einmal fingen die an sich zu drehen. So als wollte er mir ein Taschentuch reichen. Das sind so Momente, wo man einfach spürt, er ist da.

Was hat dir nicht geholfen?

Kommentare, wie „Ich weiß, wie du dich fühlst“ oder „Es wird alles wieder gut“. Das tat mir dann so weh. Das reißt alles auf. Oder so einfach drüber wischen, so tun als ob nichts passiert wäre. Also auf der Straße mit mir über das Wetter reden, wenige Wochen nach dem Unfall oder sogar die Straßenseite wechseln, aus Hilflosigkeit oder was weiß ich. Das war das Schlimmste, als wäre nichts passiert. Dabei ist alles passiert.

Was machst du jetzt mit deinem Leben?

Ich habe keine großen Ziele, die ich mir gesteckt habe, sondern ganz im Gegenteil, es ist eher so, dass ich mir sage, lebe von Tag zu Tag. Die Aussicht darauf, den Rest deines Lebens ohne dein geliebtes Kind zu verbringen, das bringt dich um. Mit dem Gedanken kannst du nicht leben. Er fehlt mir einfach unglaublich, ich werde ihn auf der Erde nie wiedersehen, das ist überwältigend schmerzhaft, aber da ist ja auch noch Elena und mittlerweile auch Sami, die mich brauchen und nach Leben schreien.

Wie würdest du Trauer beschreiben?

Wie eine kaputte Glasscheibe. Das Licht spiegelt sich darin und kann durchscheinen. Man kann durchschauen. Man sieht auch alles klarer. Es fühlt sich alles realer an als vorher. Durch die vielen Bruchteile können sich schöne Spiegelungen ergeben. Man kann sich aber auch ganz böse dran schneiden. Und es kann manchmal sehr kalt reinziehen, weil es kaputt ist. Das Leben ist nicht mehr so kuschelig wie vorher, sondern nüchtern und kalt.

„Ich weiß heute,
dass ich bleiben darf“

Sabrina

Was ist passiert?

Mein Mann war Leistungssportler. Dem Trainer fiel auf, dass mein Liebster seit einiger Zeit nicht mehr so leistungsfähig war. Zudem litt er unter enormen Hustenattacken, die er auf eine verschleppte Erkältung zurückführte. Nach einiger Zeit suchte er dann einen Arzt auf, der aufgrund der Röntgenbilder ratlos war, da er so etwas noch nie gesehen hatte. So begann der Ärztemarathon. Nach weiteren Wochen stand die Diagnose. Mein Mann war zu der Zeit weiterhin körperlich fit, sehr aktiv, lebensfroh und guter Dinge. Ein Lungenspezialist teilte uns dann nach einer weiteren Untersuchung, hinter seinem Computer versteckt, kurz und knapp mit, dass mein Mann an Lungenfibrose erkrankt sei und ihm maximal 2 Jahre blieben.

Als er bereits so schwach war, dass er sowohl auf die 24std Sauerstoffzufuhr angewiesen war, als auch im Rollstuhl saß, beschlossen wir zu heiraten.

Es war ein wundervoller Tag mit unseren Lieblingsmenschen im Himmelmoor. Unser engster Freund traute uns unter freiem Himmel mit Blick in die Weite. Weitere Freunde machten Musik, kümmerten sich um das Buffet und sorgten für uns. Die Gäste beschrieben diesen Tag, diese Stimmung und das Innige zwischen uns als sehr intensivstes und tiefgreifendes Erlebnis.

Noch einmal reisten wir gemeinsam für einige Tage ans Meer.

Danach wurde uns klar, dass das Pensum an Pflege zu Hause durch mich nicht mehr zu leisten war. Zu der Zeit arbeitete ich, unsere Tochter war 2,5 Jahre alt und mein Mann konnte nicht einmal mehr selbständig stehen. Ich konnte das Haus kaum verlassen, er brach regelmäßig zusammen, bekam unter Hustenattacken keine Luft mehr.

Er wurde somit im Krankenhaus aufgenommen. Parallel dazu führte er die Liste der Transplantationskandidaten für eine Lunge an, so dass es jederzeit soweit sein konnte.

Eine Alternative dazu gab es nicht mehr. Es war klar, dass er das Ende des Jahres wohl nicht erleben würde, da er immer schwächer wurde und drohte zu ersticken.

Kurze Zeit später klingelte nachts das Telefon, eine passende Lunge sei gefunden. Ich solle mich sofort auf den Weg machen, die Transplantation würde nun eingeleitet. Unfassbares Glück durchströmte mich und die tiefe Hoffnung auf Perspektive für meinen Mann, für mich, für unsere Familie.

Die Transplantation verlief gut. Jedoch war das Immunsystem bereits so geschwächt, dass er nach 3 Wochen, die ich an seinem Bett verbrachte, an einem Multiorganversagen verstarb.

Was hat es mit dir gemacht?

Zunächst einmal hat mich der Tod meines Mannes in ein unendlich tiefes Loch bestehend aus Zeit gerissen.

Aus heutiger Sicht befand ich mich über Wochen hinweg in einer Schockstarre, habe viele Ereignisse aus dieser Zeit tatsächlich abgespalten, nur diffuse Bilder sind geblieben. Immer wieder kam „die riesige, unerwartete Bratpfanne“, die mich von der Seite mit der blanken Realität erwischte und mich erschlug, mich mit Weinkrämpfen erschöpft am Boden zurück ließ.

Immer wieder begleitete mich bereits zu Lebzeiten meines Mannes das tobende Gefühl von Wut in mir. Warum? Warum muss er, müssen wir so leiden? Warum haben andere die Möglichkeit „locker, flockig“ vor sich hin zu leben? Habe ich nicht in meinem Leben bereits genug ertragen? Warum lässt Gott diese wahnsinnige Qual so vieler Beteiligter zu? Warum entsteht immer wieder Hoffnung und die „Keule der Realität“ holt uns dann doch ein?

Der, der mich wirklich zutiefst beeindruckt hat und das bis heute, ist mein verstorbener Mann. Er hat gekämpft, wenn es möglich war und hat sich fallen gelassen, als es nötig war.

Was hat dir geholfen?

Einerseits war in den Wochen und Monaten der tiefen Trauer die Zeit, besonders die freie Zeit, mein Feind.

Ich konnte es kaum aushalten, nicht beschäftigt zu sein. Hatte Panik davor, der Gedankenspirale in Abwärtsrichtung ausgesetzt zu sein. Ein vollgepackter Terminkalender erleichterte mich, nicht denken zu müssen, sondern in Bewegung zu sein. Vor mir und meinen Gedanken „weglaufen“ zu können, indem ich in Aktion war, gab mir Halt und Ruhe. Ich habe mir jedes Recht der Welt eingeräumt in der Zeit alles tun und lassen zu dürfen, was mir gut tat. Auch wenn es nach außen hin absurd wirken mochte. Ich hielt es beim ersten Weihnachtsfest nicht aus, harmonisch mit der Familie unterm Tannenbaum zu sitzen und über Banalitäten zu faseln. So trug ich den geschmückten Tannenbaum nach einigen Stunden aus der Wohnung in den Garten, übergoss ihn mit Rum und zündete ihn an. Ich tat zu jeder Zeit wonach mir in dem Moment war. Vieles half mir im Rahmen von Ritualen. Gedanken nieder zu schreiben und die Zettel zu seinem Grab zu bringen, oder an Orte, die uns wichtig waren. Ich gab mich meinen Gefühlen hin, hörte Musik, fuhr ans Meer, ließ mich von Weinkrämpfen schütteln und lachte Tränen über seine Marotten, an die ich mich erinnerte.

Andererseits war es aus heutiger Sicht die Zeit, die einfach so ungefragt dahinplätscherte die, die mich „heilen“ ließ. Erfahrungen zu sammeln, dass das Leben Freude und Spaß für mich bereithält, ging mehr und mehr in eine Sicherheit über. Es half mir mit den Menschen Zeit zu verbringen, die auch ihm nahe standen, das brachte ihn gefühlt zurück in unsere Mitte.

Sehr regelmäßig fuhr ich zu seinem Grab und verbrachte dort oft Stunden, die es mir ermöglichten in meinem Tempo Abschied zu nehmen und nicht in dem, das das Schicksal für uns gewählt hatte.

Was hat dir nicht geholfen?

Sicher meinen es die Menschen, auf die man in der Zeit der Trauer trifft, gut mit dem Trauernden. Die meisten sind unsicher in der Wortwahl und im Gegenübertreten.

Mir hat Authentizität im Kontakt geholfen. Mit Äußerungen wie: „Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll, es tut mir einfach nur weh“, konnte ich gut umgehen. Ein Gefühl kann ich mit einem Menschen teilen, gelangt in mein Herz. Ein gut gemeinter Rat an der Stelle, wie z.B.: „die Zeit heilt alle Wunden“, stockt im Kopf und hat mich zu keiner Zeit berührt, geschweige denn geholfen.

Was machst du jetzt mit deinem Leben?

Ich kann sagen, dass wenige Menschen erfahren dürfen, wie weit sie für den Menschen, den sie aus vollem Herzen lieben, gehen können.

Was bedeutet Liebe?

Was bedeutet es, an der Seite eines Menschen zu sein?

Was bedeutet es, einen Menschen in den tiefsten Tiefen zu erleben und ihn zu begleiten?

Was bedeutet es den Tod zu spüren, als wäre es dein eigener?

Was bedeutet es mit allem, was dir zur Verfügung steht, für jemanden da zu sein?

Ihn zu beschützen wie ein Löwe?

Wie fühlt es sich an zu wissen, dass man die sein wird, die bleibt?

Das Leben des Anderen weiter zu führen?

Die Verantwortung, Sorge und Liebe für die Kinder allein weiter zu führen?

Was bedeutet es, den anderen gehen zu lassen?

Heute bin ich an dem Punkt, an dem ich alle Kämpfe ausgefochten habe und für mich erkannt habe, dass ich es wert bin, zu leben und es genießen zu dürfen.

Ich weiß heute, dass ich bleiben darf.

Ich darf sowohl am Leben bleiben, als auch an der Seite meines heutigen Ehemannes.

Mein Leben definiert sich nicht mehr über Verlust, Trauer und den Umgang damit.

Ich weiß, dass ich leben darf, mit allem was es ausmacht.

Ich weiß, dass ich glücklich sein darf, dass ich angekommen bin, dass ich meine Kämpfe gewonnen habe.

Vor allem weiß ich, wie sehr ich lieben kann und das, mit allem, was es ausmacht.

„Ich schaffe Raum für
Geschichten“

Kimberley

Was ist passiert?

Mein Bruder ist plötzlich gestorben als ich im 6. Monat schwanger war. Am Geburtstag meiner Mutter.

Was hat es mit dir gemacht?

Es hat mich erstmal in tiefste Dunkelheit geschubst, eine ganze Weile. So ein innerer, ganz dunkler und grauer Ort. Und es hat mich erschrocken. Ich war ganz lange erschrocken. Wahrscheinlich hat es mich auch ernster gemacht. Jetzt, einige Jahre später würde ich sagen, es hat mir Tiefe gegeben und vielleicht mehr Empathie.

Was hat dir geholfen?

Eine Freundin hat mich besucht und gesagt: „Ich weiß nicht, was ich sagen soll:“ Das war so gut. Ich wusste ja auch nicht, was ich sagen soll. Zwei andere Freundinnen haben meinen Balkon bepflanzt, das war schön, so viel Leben. Ich hatte keine Kraft dafür, aber es hat mich unheimlich belebt.

Was hat dir nicht geholfen?

Vergleiche. „Ich weiß, wie du dich fühlst“- und sowas. Stimmt halt einfach nicht. Man weiß einfach nicht, wie der andere sich fühlt, wenn er den Tod getroffen hat, es sei denn, man hat es selber erlebt. Und es ist ja auch ok, das nicht zu wissen.
Oder sowas wie „Aber schau mal, du bist schwanger, das Leben geht weiter“. Das hat das alles so entwertet. Als würde der Gewinn den Verlust wegmachen.

Was machst du jetzt mit deinem Leben?

Was geblieben ist, ist, dass ich mir wünsche, Hinterbliebenen eine Sprache zu geben. Und auch ein Verstehen und Verstanden werden. Das ist, was ich so mache. Ich schaffe Raum für Geschichten.