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Alex
„Ich lebe.“

Alex

Was ist passiert?

Mein Ehemann Storch (eigentlich hieß er Carsten Schmelzer, aber alle nannten ihn nur Storch) ist Ende Juni 2015 gestorben, nachdem er zuvor knapp drei Wochen wegen einer Gehirnblutung im Krankenhaus gelegen hatte. Im Mai 2015 hatte der Hausarzt lebensgefährlich hohen Blutdruck diagnostiziert. Aber noch bevor er mit einer Behandlung beginnen konnte, brach Storch Anfang Juni wegen einer Sickerblutung im Hirnstamm zusammen. Er kam auf eine neurochirurgische Intensivstation, lag im künstlichen Koma und wurde beatmet. Nach einigen Tagen wurde die Narkose zurückgenommen und die Ärzte haben untersucht, ob Storch wieder zu sich kommt und was von seinem Gehirn noch funktioniert. Da gab es viele unerwartete Zeichen der Besserung. Die Blutung hatte sich zu einem großen Teil von alleine abgebaut, in mehreren Regionen des Gehirns konnte normale Aktivität gemessen werden. Storch war zwar nicht wieder bei Bewusstsein, er bewegte sich aber und reagierte auf Berührungen und Ansprache. Nach zweieinhalb Wochen wurde er in eine Rehaklinik verlegt, um dort von der Beatmung entwöhnt zu werden. Leider gab es am zweiten Tag schon so heftige Komplikationen, dass Storch einen Lungenriss und in Folge dessen einen Herzinfarkt erlitt. Dieser war so heftig, dass die Ärzte ihn nicht retten konnten. Besonders tragisch war, dass Storch bis zum letzten Tag immer mehr aufwachte und reagierte. Aber künstliche Beatmung und die Entwöhnung davon sind für den Körper sehr anstrengend und gefährlich.

Was hat es mit dir gemacht?

Es hat sich angefühlt wie eine Amputation – ein wichtiger Teil meiner selbst wurde mir mit Gewalt entfernt und ich musste lernen, ohne diesen Teil weiter zu leben. Storch und ich waren 17 Jahre verheiratet, kannten uns seit fast 30 Jahren und hatten schon im Spaß überlegt, wie wir unsere Silberhochzeit 2023 feiern wollen. Wir waren mit Anfang 20 ein Paar geworden, wir haben uns gegenseitig geprägt und geformt. Vor allem haben wir uns sehr geliebt und unsere Beziehung war für uns beide das Wichtigste im Leben. Ich hatte früher manchmal versucht, mir vorzustellen, wie es sein würde, wenn er vor mir gehen muss. Aber ich hätte mir nicht ausmalen können, wie überwältigend die Trauer sein würde. Von Anfang an war ich nicht nur traurig, sondern vor allem auch wütend, ängstlich und immer wieder innerlich leer und abgestorben. Als würde mein Gehirn manchmal abschalten, weil es das alles nicht mehr ertragen konnte. Das machte sich auch psychosomatisch bemerkbar in Problemen beim Schlafen und Essen, Rückenschmerzen und gestörtem Immunsystem.

Was hat dir geholfen?

Ganz am Anfang gab mir jemand einen Rat, der mich bis heute begleitet: „Trauer dauert so lange, wie sie dauert. Trauer passiert, wie sie passiert.“ Das hat mir viel Druck rausgenommen, wenn ich das Gefühl hatte, ich müsste funktionieren oder schneller heil werden oder Erwartungen anderer erfüllen. Meine Gemeinde hat mich aufgefangen und getragen. Bis heute bin ich zutiefst bewegt davon, wie sich die Leute um mich gekümmert haben. Sie haben mich zum Essen eingeladen, für mich gebetet und geputzt, immer wieder angerufen und nach mir gefragt. Sehr oft bin ich einfach mit einer Familie mitgegangen, wenn sie einkaufen mussten oder einen Ausflug gemacht haben. Ich wurde liebevoll „mitgeschleift“, das tat mir gut. Ich war erstaunt, dass ich Überlebenswillen in mir gefunden habe, damit hatte ich nicht gerechnet. Mir wurde sehr bald klar, dass ich mich öffnen und reden muss, sonst würde ich kaputtgehen. Es war nicht leicht, aber ich habe in der Trauer viel gelernt, was ich brauche und was mir hilft.

Was hat dir nicht geholfen?

Reparaturversuche und Ratschläge. (Ratschläge sind eigentlich auch nur Schläge!) Sehr viele Menschen wollten mir unbedingt etwas Gutes sagen und mich trösten. Das ging leider oft daneben und hat mich eher verwirrt und unter Druck gesetzt. Trost wird leicht falsch verstanden. Es ist besser, dem trauernden Menschen in seinem Schmerz beizustehen und ihn zu respektieren, als Traurigkeit „wegmachen“ zu wollen. Traurigkeit ist der Situation angemessen und wichtig für die Verarbeitung. Religiöse Floskeln und Erklärungen haben mir auch eher geschadet als geholfen. Ich glaube, dass mein Mann bei Gott ist und dass es ihm dort gut geht. Wir werden uns wiedersehen. Das finde ich schön, aber es ist kein Trost für meine Trauer. Im Himmel wird alles anders sein, aber ich brauche ihn jetzt hier bei mir.

Was machst du jetzt mit deinem Leben?

Ich lebe. Manchmal lese ich so Berichte von Menschen, die einen großen Umbruch oder eine Krise erlebt haben und dann noch mal ganz vor vorne angefangen haben, neuer Wohnort, neuer Partner, neue Arbeit. Das hab ich alles nicht gemacht, oder noch nicht. Tatsächlich habe ich die ersten sechs Jahre fast durchgehend getrauert und erst seit ein paar Monaten gibt es längere Pausen zwischen den einzelnen Trauerwellen. Wahrscheinlich wird mich das mein Leben lang begleiten, aber ich werde lernen, damit umzugehen. Das Leben, das Storch und ich gemeinsam geführt haben, war spannend und abwechslungsreich, es war mir aber auch oft zu schnell und zu anstrengend. Ich hatte mir schon lange gewünscht, ruhiger zu leben. Jetzt kann ich gar nicht mehr anders. Ich wohne in unserer Wohnung, ich habe eine gute Arbeit, wundervolle Freunde und eine sichere Gemeinde. Dafür bin ich dankbar.

Wie würdest Du Trauer beschreiben?

Wie ein Spülbecken, bei dem der Abfluss verstopft ist. Das Wasser ist dreckig, voll ekliger Brocken und es fließt nur langsam ab. Zwischendurch stockt es immer wieder und bleibt stehen, dann gibt es wieder einen großen Blubb und ganz viel fließt auf einmal ab. Man versucht, die schlimmsten Stücke rauszufischen und wegzuwerfen, aber eigentlich will man sie gar nicht anfassen und es geht auch nicht schneller dadurch. Diese Drecksbrühe besteht aus Angst, Wut, körperlichem Schmerz, Traurigkeit, Einsamkeit, Hoffnungslosigkeit und vielen anderen Gefühlen, die einen überwältigen. Man muss oft abwarten, bis sie sich von alleine auflösen oder kann sie nur ganz vorsichtig auflösen.