Zum Hauptinhalt springen
„Ich nehme das Leben
an sich, nicht als
selbstverständlich…“

Marzia

Was ist passiert?

Wir haben mit meinen Eltern einen Bauernhof-Urlaub gemacht. Direkt am Meer in Schleswig-Holstein. Wir waren gerade den zweiten Tag da und hatten einen ganz tollen Tag in St.Peter-Ording am Strand. Es war windig, es war Sonnig, es war Mai. Auf dem Rückweg mussten wir über so einen Feldweg. Links und rechts nur Felder. Wir sind ganz langsam gefahren und man hörte wie das Gras am Unterboden des Autos kratzte. Ich hab noch zu meiner Tochter Elena gesagt, „Guck mal, da sind Schafe“, und Elena hat immer versucht zu gucken und hat nichts gesehen aus ihrem Kindersitz und dann hab ich zu meiner Mutter gesagt, „Wir können ja gleich nochmal wiederkommen, der Bauernhof ist ja schon da vorne, das ist ja nicht weit“. Und in dem Moment wanderte mein Blick von den Schafen so langsam zum Beifahrersitz hin und an dem Beifahrersitz vorbei sah ich einen Zug. Der war so nah. Dann hab ich nur noch gesagt – „Der Zug!“. Und dann war schwarz. Ich bin erst wieder zu mir gekommen, da hing ich kopfüber im Auto. Es war wie im Film. Ich hab funktioniert, hab versucht mich abzuschnallen. Um mich herum waren Stimmen. Mein Vater hing kopfüber, ihm tropfte was vom Kopf und er hat unmenschliche Laute von sich gegeben. Es war wie im Horrorfilm. Irgendwann hat irgendwer mich ins Gras gelegt, ich hörte Elena, die hat geweint und meine erste Frage war, „Wo ist mein Sohn?“. Die haben mich immer nur vertröstet und haben gesagt, „Wir kümmern uns, wir kümmern uns!“. Dann wurde ich in den Krankenwagen geschoben und hab immer wieder nach Matteo gefragt und die haben einfach nichts gesagt. Auf dem Weg ins Krankenhaus hab ich dann wieder gefragt, „Kann mir bitte jetzt mal irgendjemand sagen, was mit meinem Sohn ist?! Lange Haare, lila Jacke!“. Und dann hat der Typ neben mir während er irgendwas Medizinisches mit mir machte so ganz nebenbei gesagt, „Ach, das war ein Junge? Ich dachte, das war ein Mädchen. Nee, der war schon tot als wir dahin kamen“. So hat der das gesagt und ich hab solche Panik gekriegt und hab angefangen zu schreien, woraufhin Elena richtig Panik kriegte, weil Mama schreit. Dann hab ich mich beruhigt, ich hab bis 10 gezählt und hab immer wieder gesagt, „Das kann nicht wahr sein, das ist nicht möglich, das ist nicht wahr, das kann nicht sein, das überleb ich nicht, das geht nicht!“. Im Krankenhaus hab ich ganz mechanisch alle Fragen beantwortet, „Tetanus, ja, Allergien, nein, …“ und in meinem Kopf explodierte es, „Er ist tot, er ist tot, er ist tot. Das Leben funktioniert nicht mehr. Er ist tot. Das wofür ich gelebt hab, ist tot. Mein Sohn, mein Wunschkind, das ich immer wollte, er ist tot. Er wird nie wiederkommen“.

Was hat es mit dir gemacht?

Es hat alles auf einen Schlag verändert. Ich habe jetzt ein komplett anderes Leben als ich vorher geführt habe. Mein Blick auf Dinge ist komplett anders. Sein Tod hat ein Stück meines Herzens, meines großen, großmütigen Herzens kaputt gemacht. Mir das Herz rausgerissen. Er war mein Erstgeborener. Ich konnte mir ein Leben ohne ihn einfach nicht vorstellen. Ich war nicht dabei als er seine letzten Atemzüge tat. Das ist so ein beschissenes Gefühl als Mutter dein Kind allein zu lassen.

Oft merken Menschen erst, was sie haben, wenn sie es verlieren. Leid öffnet einem die Augen. Matteo hat mich zum anderen Menschen gemacht. Der Unfall hat mich wieder zu einem anderen Menschen gemacht.

Was hat dir geholfen?

Ich habe immer mal wieder solche kleinen Begegnungen. Das ist schön und heilsam. Es ist dann so als würde sich eine Tür zum Himmel öffnen und durch diese Tür lächelt mir Matteo entgegen. Immer wieder. An seinem Grab sind drei kleine Marienkäfer aus Holz, die ihm seine Cousinen da reingesteckt haben, die sich drehen können. Die waren zum Beispiel so lange still, bis ich anfing zu weinen. Auf einmal fingen die an sich zu drehen. So als wollte er mir ein Taschentuch reichen. Das sind so Momente, wo man einfach spürt, er ist da.

Was hat dir nicht geholfen?

Kommentare, wie „Ich weiß, wie du dich fühlst“ oder „Es wird alles wieder gut“. Das tat mir dann so weh. Das reißt alles auf. Oder so einfach drüber wischen, so tun als ob nichts passiert wäre. Also auf der Straße mit mir über das Wetter reden, wenige Wochen nach dem Unfall oder sogar die Straßenseite wechseln, aus Hilflosigkeit oder was weiß ich. Das war das Schlimmste, als wäre nichts passiert. Dabei ist alles passiert.

Was machst du jetzt mit deinem Leben?

Ich habe keine großen Ziele, die ich mir gesteckt habe, sondern ganz im Gegenteil, es ist eher so, dass ich mir sage, lebe von Tag zu Tag. Die Aussicht darauf, den Rest deines Lebens ohne dein geliebtes Kind zu verbringen, das bringt dich um. Mit dem Gedanken kannst du nicht leben. Er fehlt mir einfach unglaublich, ich werde ihn auf der Erde nie wiedersehen, das ist überwältigend schmerzhaft, aber da ist ja auch noch Elena und mittlerweile auch Sami, die mich brauchen und nach Leben schreien.

Wie würdest du Trauer beschreiben?

Wie eine kaputte Glasscheibe. Das Licht spiegelt sich darin und kann durchscheinen. Man kann durchschauen. Man sieht auch alles klarer. Es fühlt sich alles realer an als vorher. Durch die vielen Bruchteile können sich schöne Spiegelungen ergeben. Man kann sich aber auch ganz böse dran schneiden. Und es kann manchmal sehr kalt reinziehen, weil es kaputt ist. Das Leben ist nicht mehr so kuschelig wie vorher, sondern nüchtern und kalt.